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Eine Ara geht zu Ende, Interview mit Frank Olbert, Kasta.du

Mar 21 2012
Herr Nusseibeh, in Ihrem neuen Buch geben Sie der Zwei-Staaten-Lösung keine Chance mehr. Stattdessen schlagen Sie vor, Israel solle ganz Palästina annektieren. Sind Sie frustriert oder optimistisch?

Sari Nusseibeh: Ich bin wohl beides. Es ist sicher Ausdruck der Tatsache, dass eine bestimmte Zukunftsperspektive, die wir alle erhofften ...

... also die klassische Zwei-Staaten-Lösung...

Nusseibeh: ...genau, dass diese Lösung nicht länger praktikabel ist. Trotzdem können wir nach anderen Wegen suchen.

Warum scheint Ihnen die Zwei-Staaten-Lösung denn derzeit so unerreichbar?

Nusseibeh: Die Geschichte ist schneller als Ideen. Zu der Zeit, als jeder aufwachte und gewahrte, dass die Zwei-Staaten-Lösung die beste Lösung ist oder zumindest die beste unter allen schlechten, war sie schon unrealisierbar geworden. Wenn wir über die Zwei-Staaten-Lösung sprechen, sprechen wir über die Grenzen von 1967. Und wenn wir das tun, müssen wir einsehen, dass diese Grenzen durch den israelischen Siedlungsbau nicht mehr wiederherzustellen sind.

Aber es gibt doch die Vorstellung, Gebiete zu tauschen.

Nusseibeh: In der Theorie geht das vielleicht. Aber den Praxistest wird das nicht bestehen – schauen Sie sich nur die Situation in Jerusalem an. Ich wäre glücklich, würde Gott einen Engel senden, und der Engel zöge aus seinem Rucksack einen Plan für eine Zwei-Staaten-Lösung, der alle Probleme berücksichtigen würde: einen neuen Teilungsplan, das Flüchtlingsproblem, die Hauptstadtfrage.

Was steht der Zwei-Staaten-Lösung noch im Wege?

Nusseibeh: Subjektive Gründe, Haltungen auf beiden Seiten. Sehen Sie sich Israel an: das Land ist nach rechts gerückt. Es ist nicht in der Lage, die notwendigen Kompromisse zu schließen. Und dann schauen Sie sich die palästinensische Seite an: Die Palästinenser sind gespalten – Gaza und Westbank, Hamas und Fatah.

Was ist also zu tun?

Nusseibeh: Wir können weiter der Zwei-Staaten-Lösung anhängen, auch wenn ihr etwas Quixoteskes anhaftet. Oder wir können aufgeben, aber dann werden die Dinge noch schlimmer. Oder wir können neu denken, und es ist das, was ich vorschlage. Wenn wir nämlich beginnen, neu zu denken, müssen wir uns grundsätzliche Fragen stellen: Wozu sind Staaten gut? Wozu braucht man einen jüdischen Staat? Wegen der Sicherheit, sagen die Israelis. Ich argumentiere in meinem Buch, dass die Situation in Israel unsicherer und gefährlicher ist als jemals zuvor.

Siehe die iranische Bombe.

Nusseibeh: Natürlich. Israel ist ein kleines Land, alle sind auf engem Raum konzentriert. Und schauen wir uns die palästinensischen Argumente für einen eigenen Staat an. Da geht es um Würde und Lebensqualität. Wird dies tatsächlich durch einen eigenen Staat garantiert? Ich plädiere für einen neuen Entwurf, eine Föderation vielleicht, eine Wirtschaftskonförderation nach europäischem Vorbild, aber nicht entlang der Grenzen von 1967.

Aber wie realistisch ist das?

Nusseibeh: Wenn Sie nach einer Mehrheit in dieser Frage suchen, werden Sie die wahrscheinlich gerade nicht bekommen. Aber darum geht es nicht. Worum es geht, ist die Frage, ob man alles so belässt, wie es ist. Das macht alles nur schlimmer.

Haben Sie konkrete Forderungen an Israel?

Nusseibeh: Da die internationale Gemeinschaft, allen voran Barack Obama, nicht in der Lage ist, die Zwei-Staaten-Lösung den Beteiligten aufzuerlegen, soll Israel den Palästinensern zumindest die bürgerlichen Grundrechte gewähren. Damit wäre die Bühne bereitet für eine andere Zukunft, entweder für einen einzigen Staat oder für eine Konföderation.

Am Ende Ihres Buchs gehen Sie auf die Demonstrationen in Tel Aviv im vergangenen Jahr ein...

Nusseibeh: Der Arabische Frühling...

...in Israel! Glauben Sie, dass die jüngere Generation in Israel anders tickt als die Scharons und Netanjahus?

Nusseibeh: Letzten Endes ja. Ich bin nicht gut in Vorhersagen, aber es werden wohl zwei Dinge zur selben Zeit geschehen: Die Leute werden genug haben von der derzeitigen Situation und sich wieder mit grundlegenden menschlichen Werten identifizieren. Und das zweite ist, dass es überhaupt wieder mehr um Grundlegendes geht, unter den Palästinensern wie auch in Israel. Das war auch das Wesentliche an der Arabischen Revolte: Das Volk hat sich selbst als Souverän ausgerufen. Bis dahin waren nur Regierungen und Könige Souveräne.

Wie groß ist die Gefahr, dass diese Entwicklungen durch Islamisten vereinnahmt werden?

Nusseibeh: Die Gefahr besteht, und sie war abzusehen. Wir müssen abwarten, wie die Moslems sich verhalten – schlagen sie sich auf die Seite des Pragmatismus oder bekämpfen sie die eigenen Leute, wie es offensichtlich die Hamas in Gaza tut. Sie provoziert damit neuerliche Revolten.

Es hat sich also etwas Grundlegendes verändert ...

Nusseibeh: Wissen Sie, wenn früher in einem arabischen Land demonstriert wurde, dann stets für einen Potentaten, für den man sogar bereit war, sich zu opfern. Jetzt aber geht es nicht mehr um Solidaritätsbekundungen für einen Führer, sondern um das Volk selbst.

Aber trotzdem halten die alten Eliten an der Macht fest, wie die Rolle des Militärs in Ägypten zeigt.

Nusseibeh: So ist es. Es gibt die Armee, die alten Machthaber, das Stammessystem. Diese Welt hat sich nicht plötzlich in eine neue verwandelt – die Lage ist kompliziert und unübersichtlich.

Wie denken Sie heute über Arafat? Würde er heute die gleiche Rolle spielen wie damals?

Nusseibeh: Er war fast eine mythische Figur. Ich habe Arafat gemocht, ich hatte eine Schwäche für ihn, seiner Fehler und Irrtümer zum Trotz. Ich denke, er war besonders und das Charisma, über das er verfügte, gibt es heute nicht mehr. Er war in der Lage, die Fantasie zu beflügeln, auch ein Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen.

Was wird geschehen, wenn Mahmoud Abbas in der Politik aufhört?

Nusseibeh: Eine schwierige Frage, denn es geht nicht allein um Abbas – ein ganze Ära geht zu Ende, eine Generation tritt ab. Es ist die Generation der Arafat-geführten PLO.

Das Gespräch führteFrank Olbert